„Wald, kenn ich schon!“
Forstpraktikum der 9.Klasse im Frühjahr 2011
Es war ein Schritt des Vertrauens, einen Neuanfang zu wagen und zusätzlich zu dem Landbaupraktikum, welches an unserer Schule einen festen Platz in der Oberstufe einnimmt, unseren Schülern der neunten Klasse auch ein Forstbaupraktikum anzubieten. Es war aber kein blinder Schritt in absolut unbekannte Territorien.
Bei einer Weiterbildung ist unser Gartenbaulehrer Herr Maaß mit Herrn Hahn in Kontakt getreten, der große Erfahrung im Umgang mit Jugendlichen aufweist und überzeugt von der positiven pädagogischen Wirkung eines Forstbauprojekts ist. Der Kontakt war kurz, jedoch lang genug, um Herrn Maaß von der fachlichen Kompetenz des Försters zu überzeugen, und deshalb trug er diese Begeisterung in unsere Schule. Manche Dinge muss man einfach aus dem Bauch heraus entscheiden, und so von der Idee angesteckt, trat ich eines Tages an unseren Gartenbaulehrer heran und sagte: „Lass es uns machen.“ Ich telefonierte kurz mit Herrn Hahn, ließ mich weiter anstecken und machte dann die Termine für Elternabende sowie andere notwendige Vorbereitungen, um so das Vorhaben in Gang zu bringen.
Was habe ich mir als Klassenlehrer von diesem Praktikum gewünscht und erhofft? Um etwas klar zu stellen: Ich arbeite an einer kleinen heilpädagogischen Schule, die alle geistigen, Lern- und sozialen Behinderungen integrativ betreut. Meine Klasse besteht aus Quereinsteigern, die im besten Fall gescheitert, gemobt und verängstigt, im schlimmsten Fall traumatisiert, missbraucht und vernachlässigt aus anderen Schulen in meine Klasse gewechselt sind. Wenn man bedenkt, dass so eine Quereinsteiger-Klasse zur Hälfte aus Schülern besteht, die weniger als zwei Jahre das Schulleben miteinander teilen, dann ist mein vornehmliches Ziel verständlich, solche Schüler überhaupt miteinander auskommen und ein positives Gemeinschaftserlebnis mitnehmen zu lassen.
Einige meiner Schüler sind jahrelang gar nicht zur Schule gegangen oder sie sind vielleicht einzeln für einige Stunden am Tag betreut worden. Ein Dauerthema bei diesen Schülern ist es, für einen längeren Zeitraum bei einer Aufgabe zu bleiben ohne das Weite zu suchen oder in Streitigkeiten zu verfallen. Für die Schüler, die konzentriert arbeiten können, aber deutlich unter Pubertätserscheinungen leiden, war es eher leichter, sich auf die Arbeit einzulassen ohne stetig in Selbstmitleid zu verfallen. Ich hoffte also länger anhaltende produktive Arbeitsprozesse zu erreichen. Ich wollte, dass die Schüler an ihre Grenzen kommen und gleichzeitig möglichst viele Erfolgserlebnisse haben.
Diese Dinge standen mir im Mittelpunkt. Natürlich hoffte ich, dass das Inhaltliche, der Wald, die Bäume, die zentrale Stellung des Waldes im Umweltschutz und die Zeit
in der Natur einen Platz für Erlebnisse und gleichzeitig viel neuen Lernstoff bieten würden. Ich bin nicht enttäuscht worden.
Wir fuhren über vier Stunden bis wir das klein Dorf Kürnach in der Nähe von Würzburg ereichten. Dort trafen wir den Förster, Herrn Hahn, der uns mit unseren Aufgaben vertraut machte.
Wir wurden mit einem Waldmeister-Trunk begrüßt und am Eingang des Waldes mit einem Zitat vertraut gemacht. Das Zitat, das wir später in unsere Berichtshefte aufnahmen, lautete: “Glaube mir, denn ich habe erfahren – du wirst mehr in den Wäldern finden als in Büchern. Bäume und Steine werden dich lehren, was du von keinem Lehrmeister hörst.“
(Bernhard v. Clairvaux)
So vorbereitet gingen wir mit langen Astscheren und Bügelsägen an die Arbeit. Unser erster Einsatz war in der ‚Jungbaumpflege‘. Mit Hilfe eines Praktikanten hat Herr Hahn ‚Zukunftsbäume‘, die Platz brauchen, gekennzeichnet. Unser Job war es, alle Bäume und Sträucher im näheren Umkreis wegzuschneiden, um für die Krone dieser Z-Bäume Licht zu schaffen. Diese Arbeit begleitete uns für die nächsten Tage. Zuerst haben wir alles im Umkreis von ca. 1,5 m weggeschnitten. Später lernten wir zu differenzieren und einige Bäume in unmittelbarer Nähe, die langsamer wachsen und keine Bedrohung für die Krone der Hauptbäume darstellen, stehen zu lassen.
Eine weitere Aufgabe, der wir uns widmeten, war die Pflanzung von Bäumen. Hier hatten wir die Möglichkeit, hunderten von Eiben eine neue Heimat zu geben. Dabei lernten wir viel über diesen sehr besonderen Baum, insbesondere seine Fähigkeit, sich selbst in einer Weise zu verjüngen, dass er im Lauf der Zeit keiner linearen Alterung unterworfen zu sein scheint. Wir pflanzten möglicherweise für die „Ewigkeit!“ Hier kam eine von den interessantesten pädagogischen Aspekten der Waldarbeit zum Vorschein. Als Herr Hahn von den Bäumen, die um uns standen und von der Arbeit im Wald sprach, lernten wir schnell, dass der Förster in unerwartet großen Zeitspannen denken und planen muss. Der Kürnacher Wald dient unter anderem auch als zusätzliche Geldquelle für die Gemeinde, sozusagen als Naturbank. Bäume, die jetzt geerntet werden, waren teilweise vor über 200 Jahren gepflanzt worden und nun pflanzten wir Bäume, die vielleicht 200 Jahre später noch der Gemeinde dienen werden.
Als Herr Hahn über diese Dinge sprach, musste ich sofort an einen meiner Schüler denken, der in den Tagen zuvor und auch bis hinein ins Praktikum unaufhörlich in Nullbock-Stimmung war und über die Sinnlosigkeit dieses Praktikums klagte. Zuletzt waren wir zu Fuß im Wald unterwegs, als ich ihn leise im Hintergrund hörte:„Die Welt geht sowieso 2012 unter.“ Die Bäume und unsere Arbeit standen als starkes Gegengewicht zu solchen Gedanken und es war genau dieser Schüler, der am dritten Tag des Praktikums Feuer fing. Als wir in der Jungbaumpflege größere Bäume fällen konnten, griff er begeistert zu einer Axt und freute sich über die Arbeit. Später arbeitete er eifrig an anderen Aufgaben.
Zwei meiner Schüler, die sich gerne auch im normalen Schulalltag vor der Arbeit drücken, waren am dritten Tag plötzlich unauffindbar. Nachdem sie wieder auftauchten, informierten wir sie, dass sie bei einem solchen Verhalten nach Hause geschickt werden müssten. Es gab Ausreden, Geschrei und dann endlich auch Zugeständnisse. Ich machte ihnen klar, dass sie die wertvolle Zeit und das Wissen des Försters, welches er ihnen bereitwillig zur Verfügung stelle, mit ihrem Verhalten vergeuden würden, und dass sie nur bleiben dürften, wenn sie etwas an ihrem Verhalten änderten. Die Schüler haben daraufhin ihre Grenze gefunden, haben schließlich „die Kurve gekriegt“ und blieben bis zum Ende des Praktikums produktiv dabei.
Am nächsten Tag ging ich allein zu Fuß mit einem meiner Schüler. Wir hielten an, schlossen die Augen und lauschten lange dem Lied eines Vogels bis das Rauschen des Winds durch die Baumwipfel alles andere übertönte. Es gab faszinierte Fragen zu Ameisenkolonien, Insekten oder anderen Bewohnern des Waldes.
Am letzten Tag besuchten wir ein Haus von dem berühmten Architekten Hundertwasser, das in der Nähe unseres Waldes lag; anschließend fuhren wir zu einem Aussichtspunkt, von dem aus wir über die Weinberge schauen konnten und einen grandiosen Blick auf die Mainschleife hatten. Wir gingen die Weinberge zum Fluss hinunter, in den eine Schülerin sogleich hinein springen musste. Nach und nach gingen fast alle Schüler der Klasse bei frischem Aprilwetter baden und hatten ihren Spaß. Wegen solcher Erfahrungen und all der Dinge, die passieren, wenn man den ganzen Tag zusammen verbringt, wegen der kleinen aber oftmals sehr persönlichen Gespräche sind wir dieses Praktikum eingegangen.
Wir sind von morgens 9 bis abends 17 oder 18 Uhr im Wald gewesen und haben gearbeitet. Zwischendurch gab es immer Zeit für Pausen und so konnte die Arbeit in einem angenehmen Tempo durchgeführt werden, ohne dass jemand überfordert wurde. Der Wald selber wurde zwischendurch zum Spielplatz, auf dem man abgestorbene Bäume einfach umkippen konnte. Abends fuhren wir eine Viertelstunde zu unserem schönen Quartier: ein altes Haus mit allem, was wir brauchten. Ich erinnere mich gern an leckere Mahlzeiten, zusammen am Tisch zu sitzen, an Gespräche, an Blödsinn und an das Gefühl, eine Gemeinschaft wachsen zu sehen.
Nach dem Essen, ab 19.30 Uhr kam Herr Hahn, öfter begleitet und unterstützt von seiner Frau, für mindestens eine Stunde, um den theoretischen Unterricht abzuhalten. Ich war anfangs sehr skeptisch gegenüber dieser Unterrichtseinheit, so spät abends nach einem vollen Tag Arbeit. Es klappte aber problemlos, was auch daran lag, dass Herr Hahn sehr ruhig und bestimmt an diese Aufgabe ging. Wir schrieben kleine Aufsätze und Zusammenfassungen über die Dinge, die wir tagsüber gemacht hatten und worauf wir achten mussten. Der Unterricht wurde mit schönen Bildern ergänzt, oftmals brachte Frau Hahn Essbares aus dem Wald mit. Auf unserem Esstisch standen viele kleine Pflänzchen von verschiedenen Lindenbäumen, Ahornbäumen, Buchenbäumen und andere schön anzusehende Gewächse.
Unsere Arbeit im Wald umfasste nur die ersten zwei Lebensabschnitte der Bäume. In der knappen Woche, 5 volle Arbeitstage, haben wir gepflanzt und die Jungbäume gepflegt. Dazu wäre noch die Arbeit an ausgewachsenen Bäumen und am Altbaumbestand gekommen, um den Zyklus des Waldlebens zu vollenden. Es gibt also viel zu tun im Wald.
Auf der gedanklichen Ebene klingen zwei andere Aspekte unseres Waldpraktikums nach. Erstens sprach unser Gartenbaulehrer im Austausch mit Herrn Hahn über die Tatsache, dass Feldarbeit oder die Arbeit im Wald früher von sehr vielen getragen wurde. Dieses bedeutet, dass die Erde und die Pflanzenwelt direkt von den Menschen, ihren Gedanken, ihrem Bewusstsein, oft auch durch Gebete und Ängste berührt waren. Wie ist es heutzutage, wenn große Erdflecken rein mechanisch bearbeitet werden? Luftbilder zeigen zum Beispiel riesige Kreise, die mit Maschinen bewässert und bearbeitet werden. Herr Hahn ist überzeugt, dass die Arbeit im Wald auf den Menschen wirkt und umgekehrt die Arbeit der Menschen, in diesem besonderen Fall der Schüler und Kinder, sich positiv auf den Wald auswirken.
Der andere Gedanke, der mir nach dem Praktikum gekommen ist, ist, dass diese Arbeit sich direkt mit der Zukunft und mit dem Licht beschäftigt. Um den richtigen Platz für die Setzlinge zu finden, mussten wir immer nach oben blicken und uns klar machen, was für Lichträume vorhanden waren und vorhanden sein werden. Bei der „Jungbaumpflege“ mussten wir die Plätze „lichten“ und auch bewusst Lichtraum schaffen für die Zukunft.
Ich, und ich hoffe auch meine Schüler, sehen die Bäume und den Wald um uns herum anders als vorher, mit mehr Respekt, Überblick und einigen neu erworbenen Kenntnissen. Ich konnte die direkte Erfahrung machen, dass die Wälder für uns Menschen wie auch für die Tiere lebensnotwendig sind. Im Rückblick war das Praktikum ein Volltreffer. Herr Hahn hat sich der Arbeit und dieser besonderen Art der Pädagogik einfühlsam, den Kindern gegenüber wertschätzend und kompetent gewidmet und sie mit uns geteilt. Dafür bin ich ihm sehr dankbar und hoffe, dass andere diese Arbeit auch weiterführen und davon profitieren werden.
Lauren Smith